Ulrike Ottinger »
CHAMISSOS SCHATTEN
Gallery after work Charlottenburg-Wilmersdorf
Rundgang:
Thu 11 Feb 18:00 - 21:00
Johanna Breede PHOTOKUNST
Fasanenstr. 69
10719 Berlin
+49 (0)30-88913590
photokunst@breede.de
www.johanna-breede.com
Tue-Fri 11-17, Sat 11-14
Die Welt ist zerrissen. Hinter Vertrautheit wohnt nicht selten die Fremde; hinter der Gegenwart erstreckt sich Geschichte. Wo immer Licht ist, da ist auch Schatten. Ein Zwiespalt, der nur schwer zu ertragen ist. Von hier nach dort ist es oft nur ein Sprung. Es mag nur den Wenigsten gelingen, genau diesen Sprung zur Heimat zu machen; ein Haus zu bauen auf den Rissen und Grenzen. Einer von diesen ist der deutsch-französische Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso gewesen. Einer, der beim Entweder-Oder das Dritte versucht hat. Obwohl französischer Muttersprachler, schrieb er seine schönsten Texte vor allem auf Deutsch; obwohl von aristokratischer Herkunft, blieb er Freigeist und Liberaler. Und wer diesen kosmopolitischen Aufklärer auf Zivilisation und Nation festlegen wollte, dem wich er aus in Natur und Entdeckung.
So muss es wohl auch 1815 gewesen sein, als sich der damals 34jährige „Titulargelehrte“ an Bord eines Expeditionsschiffes auf Reisen nach Polynesien, Hawaii und Alaska begab. Zweihundert Jahre ist das nun her. Zeit genug also, um diese gewaltige Route erneut zu erkunden. Die deutsche Künstlerin Ulrike Ottinger (geb. 1942) hat dies versucht. In ihrer 2014 entstandenen Photoserie "Chamissos Schatten" hat sich die Filmemacherin und Photographin auf die Spuren der großen Entdecker begeben. "In meinem Projekt", so schrieb sie vor Reisebeginn, „plane ich den nördlichen Expeditionsrouten Chamissos, Berings und Cooks zu folgen.“ Eine Tour durch Steppen, Gebirge und Sandwüsten; eine Expedition zu den Korjaken, Itelmenen und Eskimos. "Ich werde auf dieser Reise alles sammeln, was mir begegnet und bemerkenswert erscheint."
Bemerkenswert waren vor allem die Risse und Grenzen. Sie geben das Leitmotiv der großformatigen Photographien ab, die Ottinger neben zahlreichen Filmen und Aufzeichnungen von ihrer Reise mit zurückgebracht hat. Ab dem 5. Dezember werden sie in der Berliner Galerie Johanna Breede PHOTOKUNST zu sehen sein. Diese Bilder zeigen eine Welt voller Brüche. Eine Welt auf den Grenzen zwischen Tradition und Moderne, aber auch Poesie und Wirklichkeit. Titel wie "Zauberwald" oder "Auch die Berge haben sich in Wale verwandelt" bezeugen die poetische Transformation, die diese Landschafen durch den Blick von Ottingers Kamera durchlaufen haben.
Ein wenig erinnert Ulrike Ottingers photographischer Ansatz an die Ästhetik der New Topographics – jener amerikanischen Bewegung, die 1975 mit der legendären Ausstellung "Photographs of a Man-altered Landscape" Photographiegeshichte geschrieben hat. Hier wie dort geht es um die veränderte Landschaft. So tauchen in den schier endlosen Geröllwüsten auf Ottingers Bildern immer wieder zivilisatorische Zeichen auf; und immer wieder erzählen verlassene Hütten oder verrostete Schiffe von dem gewaltigen Wandel, den die Region entlang der Beringsee-Küste in den zurückliegenden Jahrzehnten durchlitten hat. Doch die New Topographics - Robert Adams oder Stephen Shore - folgten auf ihren Routen dem Schatten von Bildern. Ihre Arbeiten waren Nachlesen zur großen Landschaftsphotographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ulrike Ottinger indes folgt dem Schatten der Schrift; am Fuß die berühmten "Siebenmeilenstiefel", mit denen Adelbert von Chamisso einst die Weite gesucht hat. "Reise um die Welt" hieß 1836 das Buch, in dem der romantische Dichter seine Expeditionserlebnisse verarbeitet hat. Es war ein Buch voller Beobachtungen und Anekdoten; eine Mischung aus Poesie und Wissenschaft. Zwei Pole, zwischen denen für gewöhnlich ein Riss verläuft. Doch sowohl Ottinger wie auch Chamisso verfügen in ihrer Kunst über eine besondere Gabe: Sie verbinden Gegensätze zu etwas Neuem. Aus Entweder-Oder schaffen sie Drittes. (Text: Ralf Hanselle)