Nicht wegschauen können. Fotografie und Gewalt
Ausstellungsrundgang mit Valentin Groebner und Peter Pfrunder
Sonderführung:
Sun 17 Sep 11:30
Fotostiftung Schweiz
Grüzenstr. 45
8400 Winterthur
+41 52 -234 10 30
info@fotostiftung.ch
www.fotostiftung.ch
Tue-Sun 11-18, Wed 11-20
Die Fotografien von Dominic Nahr werden in Nachrichtenredaktionen der Weltpresse geschätzt. In Ausstellungen entfalten sie ihre volle Kraft. Befreit vom journalistischen Gebrauchswert tagesaktueller Berichterstattung, beeindrucken sie durch ihre Bildsprache und die bewusste Gestaltung. Die harten Fakten der internationalen Krisenherde sind dabei nur das äussere Gerüst, um tief in die Lebenswelten der Menschen einzutauchen. Nahr vermittelt Befindlichkeiten und Stimmungen, die weder in Worte noch mit Statistiken zu fassen sind. Sie führen uns in vier afrikanische Staaten, denen kontinuierlich der Verfall droht: Südsudan, Somalia, Mali und die Demokratische Republik Kongo. Die Ausstellung "Blind Spots" fragt aber auch nach dem Stellenwert der Fotografie im medialen System und bei der Darstellung von Not und Schrecken: Was kann, was muss eine Fotografie zeigen? Und welche Foren braucht sie, um unsere Aufmerksamkeit zu erlangen?
Seit zehn Jahren berichtet der erst 33-jährige Dominic Nahr von den Krisenherden dieser Welt. Er war in Gaza und Somalia, in Fukushima und im Kongo. Seine Fotos erscheinen in Zeitschriften wie "Time Magazine", "National Geographic Magazine" oder "Stern", für sie dokumentierte er den arabischen Frühling oder die Geburt des Staats Südsudan. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, ist Schweizer Fotograf des Jahres 2015 und Preisträger eines World Press Photo Award for General News. Geboren 1983 in Heiden im Appenzellerland, wächst Nahr in Hongkong auf. Seine Berufung findet er mit 22, als er für eine Hongkonger Zeitung tagelang gewaltsame Massenproteste mit der Kamera begleitet. Angezogen von der Intensität der Ereignisse und ihrer historischen Tragweite, macht er sich zu ihrem Augenzeugen und Chronisten. Er fotografiert in Gebieten, in denen Menschenrechte mit Füssen getreten werden. 2009 verlegt er seinen Wohnsitz nach Nairobi, Kenia, und konzentriert sich fortan auf den afrikanischen Kontinent. Im Gegensatz zu Fallschirm-Journalisten, die nur kurz vor Ort sind, hat er einen tiefen Einblick in die lokalen Zusammenhänge, weiss aber auch, dass es unmöglich ist, der Komplexität und Widersprüchlichkeit Afrikas gerecht zu werden.
Die Schwelle für Beiträge aus Afrika liegt in vielen Redaktionen derart hoch, dass ein durchsetzungsfähiger Nachrichtenwert oft nur Katastrophen, Kriege und Krisen beinhaltet. Die Gefahr der Stereotypisierung geht einher mit einer Ermüdung des Publikums aufgrund sich gleichender Negativschlagzeilen aus Afrika. Dazu kommt die erodierende Glaubwürdigkeit bildjournalistischer Dokumente: Die Unterscheidung zwischen objektiver und manipulierter Realität ist verzwickter denn je. Bilder sind machtvolle Waffen in Propagandakriegen, journalistische Sorgfaltspflichten verlieren in den sozialen Medien an Gültigkeit, das Factchecking ist
zeitraubend. Es scheint, als herrsche der permanente Wahlkampf um die Deutung der Wirklichkeit. Das Ende des Kalten Kriegs sowie die Medienkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts führten zu deutlichen personellen und inhaltlichen Zäsuren und zu einem Verlust an journalistischer Afrika-Kompetenz und Berichterstattungsvielfalt. Das mediale System weist blinde Flecken auf – Wahrnehmungslücken, Verdrängungsmechanismen und Abhängigkeiten. Damit wird auch die ökonomische Basis für Bildjournalisten immer dünner.
Südsudan, Somalia, Mali und die Demokratische Republik Kongo: vier afrikanische Staaten, die den Bedürfnissen ihrer Bevölkerungen nach Sicherheit und Grundversorgung nicht gerecht werden. Viele ihrer Probleme sind durch äussere Einflüsse verursacht, die in der Kolonialgeschichte wurzeln. Als instabile Gebilde sind sie aber auch heute noch den Interessen und dem Gewinnstreben fremder Mächte ausgesetzt. Südsudan, der jüngste Staat der Welt, versinkt seit seiner Gründung 2011 in einem Krieg um Rohstoffe, vor allem um Öl, in dem sich die Anhänger von Präsident Salva Kiir und die seines Widersachers Riek Machar gegenseitig aufreiben; mit gravierenden Folgen für die Zivilbevölkerung: Zum ersten Mal seit sechs Jahren verkündete die UNO im Februar 2017 wieder eine Hungersnot in Teilen des Südsudan. Bei der vorigen, in Somalia, waren mehr als 250 000 Menschen ums Leben gekommen. Im somalischen Bürgerkrieg bekämpfen Milizen der radikalislamischen Al-Shabaab die Friedenstruppen der Afrikanischen Union sowie den somalischen Staat. Die Regierung kontrolliert nur wenige Gebiete ausserhalb der Hauptstadt Mogadischu. In Mali besteht eine Pattsituation als Folge eines Konflikts zwischen islamistischen Rebellen im Norden und der Regierung, an dem seit 2013 auch westliche Staaten – insbesondere Frankreich und Deutschland – beteiligt sind. In der Demokratischen Republik Kongo tobt ein gewaltsamer Konflikt, der auf den Genozid in
Ruanda 1994 zurückgeht und durch Seltene Erden und andere Rohstoffe befeuert wird.
Dominic Nahr vermittelt visuelle und emotionale Erfahrungen, die die Betrachter dazu auffordern, sich gegenüber dem Bild zu positionieren: sich abwenden und wegschauen – oder hinschauen, aushalten? Nahrs Aufnahmen zeigen selten direkte Gewalt, sind oft berückend schön; mithin macht erst das Kontextwissen bewusst, dass im Bild ein Akt von Gewalt fixiert wurde. Die Ausstellung würdigt diese fotografische Leistung, die engagiert und ästhetisch, dokumentarisch und interpretierend zugleich ist. Die gekonnte Komposition und die Emphase auf Gestik, Landschaft und Szenerie lassen ein ästhetisches Interesse und eine klassische ikonografische Tradition erkennen. Indem sie das Unsichtbare suggerieren und das Sichtbare hinterfragen, erlangen die Bilder ihre Überzeugungskraft und Eindringlichkeit.
Nahrs Fotografien leben von der Sensibilität für Stimmungen, Ordnungen und Farben, seine Porträts zeigen Menschen, deren Würde oftmals ihre Verzweiflung überstrahlt. Sie provozieren aber auch ambivalente Gefühle und verstricken die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher wie auch die -macher in ein Dilemma: Wie schön darf ein schreckliches Bild sein? Können wir sicher sein, nicht einer Art dunklen Faszination anheimzufallen? Verfehlen die Bilder ihre Wirkung, wenn sie ein negatives, altbekanntes Afrika-Bild wiederholen? Neutralisiert der ästhetische Konsum ihre Wirkung? Und wie ist der Zauber des Dargestellten auszuhalten, wenn man erfährt, dass die Wirklichkeit von einer kaum zu überbietenden Trostlosigkeit ist? In einem Prolog stellt die Ausstellung diese Fragen zur Diskussion und regt zum Nachdenken über die Darstellung und Wahrnehmung von Afrika an. Eine Videoinstallation zeigt Dominic Nahr überdies bei der Arbeit und im Gespräch über seine Profession. Fotografie wird so in das Spannungsfeld von subjektiver Autorschaft und medialer Verwertungslogik gestellt.