Elsa & Johanna »
The Plural Life of Identity
Stefanie Patruno im Gespräch mit Elsa & Johanna
Artist Talk:
Sun 13 Mar 15:00
Städtische Galerie Karlsruhe
Lorenzstr. 27
76135 Karlsruhe
+49 (0)721-133-4401
staedtische-galerie@karlsruhe.de
www.staedtische-galerie.de
Wed-Fri 10-18, Sat/Sun 11-18
Die beiden französischen, in Paris lebenden Fotografinnen Elsa Parra und Johanna Benaïnous stehen sich in ihren Arbeiten selbst Modell. Seit 2014 nehmen sie alleine oder als Paar mittels Verkleidung, Requisiten und performativem Spiel fiktive Rollen ein. Sie beobachten, erfinden Geschichten und halten sich dann selbst als stereotype Charaktere fest. In ihren großangelegten, bis zu 80 Einzelwerke umfassenden Fotoserien präsentieren sich die Künstlerinnen in lässigen Posen als Teenager, Kellner*innen und Student*innen auf der Straße oder als Hausfrau und Liebespaar in einer grauen, melancholischen Vorstadtsiedlung. Die Aufnahmen setzen sich zu kollektiven Projektionsflächen um Jugendkultur, Identitätssuche und Rollenspiele zusammen. Als Meisterinnen der Selbstinszenierung thematisieren sie allgegenwärtige soziale Muster und werfen so einen kritischen Blick hinter die Kulissen unserer Gesellschaft. Die Präsentation in der Städtischen Galerie Karlsruhe, eingerichtet im Forum im Erdgeschoss und im gesamten zweiten Obergeschoss, ist die erste Einzelausstellung der Künstlerinnen in Deutschland.
Johanna Benaïnous (geb. 1991 in Paris) und Elsa Parra (geb. 1990 in Bayonne) haben beide zur selben Zeit an renommierten Kunsthochschulen in Paris studiert, mussten jedoch erst nach New York reisen, um sich kennenzulernen. Während eines Gastsemesters an der School of Visual Arts im Jahr 2014 besuchten sie denselben Kurs und begannen ihre Zusammenarbeit. Bald entdeckten sie, dass sie beide leidenschaftlich gerne Menschen beobachten. Fasziniert von der Vielfalt an Eindrücken im Schmelztiegel New York fingen sie an, sich die Passant*innen auf der Straße und ihr äußeres Erscheinungsbild ganz genau anzusehen und ihre eigenen Geschichten über das Wahrgenommene zu erfinden. Diese Passion wurde die Grundlage für ihr gemeinsames fotografisches und filmisches Werk, das sie seither als Künstlerduo Elsa & Johanna realisieren. In einem dialogischen Schaffensprozess agieren sie mit Einfühlungsvermögen, Präzision und beeindruckenden schauspielerischen Fähigkeiten vor und hinter der Kamera, sind zugleich Fotografin und Hauptdarstellerin, Regisseurin, Masken- und Kostümbildnerin in jeweils ein und derselben Person.
Gleich ihre erste Serie „A Couple of Them”, entstanden 2014 bis 2016 nach ihrer Rückkehr aus den USA in Frankreich – und in der Ausstellung nahezu vollständig zu sehen –, fand große Beachtung. Für diese Bilderfolge, zu der auch ein Video gehört, schlüpften Elsa & Johanna in die Rollen von Teenagern und jungen Erwachsenen. Sie lungern alleine oder zu zweit auf der Straße, auf Parkbänken und Sportplätzen herum, posieren vor dem Hintergrund eines Fast-Food-Restaurants, eines Supermarkts oder vor einer anderen belanglosen, tristen Vorstadtkulisse. Manche der Jugendlichen wirken selbstsicher oder geradezu arrogant, andere eher schüchtern und introvertiert. Das performative Spiel mit fremden Identitäten und klassischen Zuschreibungen wie Geschlecht, soziale Herkunft oder nationale Zugehörigkeit setzt sich zu einer Typologie junger Menschen zusammen, die man irgendwo schon einmal gesehen zu haben glaubt. Die Fotografien erscheinen wie alltägliche, authentische Schnappschüsse – sie geben Bruchstücke einer Geschichte preis und ziehen unmittelbar in ihren Bann.
Anders als bei „A Couple of Them” tritt bei der 2018 im kanadischen Calgary konzipierten, dreiteiligen Fotoserie „Beyond The Shadows“ der kinematografische Aspekt stärker in den Vordergrund. In einem Vorort der Großstadt fanden Elsa & Johanna in häuslichen Interieurs und in der landschaftlichen Umgebung geeignete Schauplätze für ein ganzes Kaleidoskop möglicher Identitäten mit unterschiedlichen Protagonist*innen, Szenen und Kulissen. Ihre in flüchtigen, oft auch intimen Alltagsmomenten festgehaltenen Individuen – Liebende, Freund*innen, Geschwister oder Mutter und Tochter – umgibt eine eigentümliche Aura von Melancholie und Vereinzelung. Es geht um die Beziehungen der Figuren zueinander, um die Geschichten, die sich zwischen ihnen ereignen könnten, und um den Blick hinter die Fassaden. Innen- und Außenwelten verschränken sich auf vieldeutige Weise. Auffallend sind dramatische Lichtführungen und suggestive Nachtszenen, in denen die Künstlerinnen mitunter bewusst Bezug nehmen auf Werke von Cindy Sherman, Jeff Wall, Tina Barney, Martin Parr oder David Lynch. Narratives wird in unterschiedlichen Schichten und Handlungssträngen spannungsreich angedeutet. Was ist passiert, was wird gleich geschehen? Jede Fotografie wirkt wie eine Momentaufnahme aus einem Film, sie spielt mit der Imagination der Rezipienten und entfaltet eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Das Rätselhafte findet gleichwohl keine Auflösung, die Betrachter*innen werden mit ihren eigenen Vorstellungen und Erwartungen konfrontiert.
Auf der kanarischen Insel Fuerteventura schlugen Elsa & Johanna ein neues Kapitel ihrer künstlerischen Arbeit auf und betätigten sich erstmals als Regisseurinnen. In dem 2018 realisierten, knapp 45-minütigen Videofilm „Tres Estrellas“ („Drei Sterne“) agieren sie als fast erwachsene Töchter Lola und Rosanna, die mit ihrer verwitweten spanischen Mutter Dolores (gespielt von Elsas Mutter) aufs Land ziehen. In ihrem neuen Wohnort, dem kleinen, abgelegenen Dorf Vega de Rio Palmas, leben auch Chico und Luis, Söhne von Ziegenhirten, die seit Kindesbeinen an miteinander befreundet sind. Sie werden in Doppelrollen ebenfalls von den beiden Künstlerinnen dargestellt. Mit der unerwarteten Ankunft der Mädchen an diesem einsamen Ort verändert sich das bislang eintönige Leben der beiden Hirtenjungen schlagartig. In ruhigen, an die Ästhetik der Fotoarbeiten anknüpfenden Szenen entwickelt sich eine Geschichte um Zuneigung, Hoffnungen und Eifersucht, um fehlgeleitete Projektionen und familiäre Konflikte.
In der dritten großteiligen Serie „The Timeless Story of Moormerland“, die eigens für diese Ausstellung vorbereitet wurde, nehmen die Künstlerinnen potenzielle Identitäten der Menschen in Moormerland an, einer kleinen Gemeinde mit etwas mehr als 20.000 Einwohner*innen nahe Emden in Ostfriesland. Statt der intensiven Farbigkeit der früheren Folgen dominiert hier ein fotografischer Retrostil mit gedämpften Farbtönen, inspiriert von den Amateur- und Familienalben des vordigitalen Zeitalters. Zum ersten Mal präsentieren sich Elsa & Johanna in generationsübergreifenden Rollen mit zahlreichen Reminiszenzen an die späten 1950er- bis 1980er-Jahre. Die Bildgeschichten entstanden vor Ort und in einem unmittelbaren Dialog mit der jeweils vorgefundenen Situation. Passend zum Retrolook der Aufnahmen arbeiteten die Künstlerinnen – im Gegensatz zu den ansonsten digital realisierten Serien – mit einer analogen Mittelformatkamera, was die körnige Struktur der Fotografien erklärt. Ergänzend konzipierten sie für die Präsentation dieser Serie mehrere Rauminstallationen mit Vintagemöbeln, in denen sich die der Zeit gleichsam entrückte Atmosphäre der Fotografien fortzusetzen scheint.