Hier können Sie die Auswahl einschränken.
Wählen Sie einfach die verschiedenen Kriterien aus.

eNews

X





STAGES
Anna Lehmann-Brauns
Stages

28 × 32,5 cm
120 Seiten, ca. 75 Abbildungen
Texte von Barbara Esch Marowski und Matthias Harder
Deutsch/Englisch
Design: Heimann + Schwantes, Berlin
ISBN 978-3-96070-112-5
Hartmann Books

Anna Lehmann-Brauns »

STAGES

Präsentation: 27 Sep – 10 Nov 2024

Sun 6 Oct

Helmut Newton Foundation

Jebensstr. 2
10623 Berlin

+49 (0)30-31864856


www.helmutnewton.com

Tue-Sun 11-19, Thu 11-20

STAGES
Anna Lehmann-Brauns: Polk Street, San Francisco, 2024

Licht und Schatten, ganz zarte und unwirklich satte Farben finden wir in Anna Lehmann-Brauns Fotografien in harmonischer Gewichtung. Wir sehen vorgefundene oder gebaute Räume, melancholische Landschaften und Stadtlandschaften, Ausblicke und Durchblicke; in anderen Aufnahmen ist die Raumtiefe wiederum bewusst verstellt. Dabei fokussiert die Berliner Fotografin sehr subtil auf manche Bilddetails, gelegentlich entstehen geradezu geisterhafte Situationen, etwa dann, wenn sich Vorhänge vor einem geöffneten Fenster durch einen Windhauch wölben. Die leichte Unschärfe führt zu einer Bewegungsillusion, und wir erweitern die eingefrorene Innenraumsituation in unserem Kopf zu etwas Sukzessivem, ja Filmischem. Viele Orte in Anna Lehmann-Brauns Fotografien könnten Bühnen oder Bühnenbilder sein – und ihre Fotos gleichen mitunter auch Filmstills. Wir kennen solche und vergleichbare Situationen aus eigener Anschauung und unserer Erinnerung, doch in den Aufnahmen der Berliner Fotografin entwickeln sie erst ihre besondere Poesie, einen Zauber der Schönheit des Vergänglichen.
Begonnen hatte es am Ende ihres Studiums in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst mit liebevoll ausgestatteten puppenstubengroßen Raummodellen, die sie gebaut, ja erschaffen – und fotografiert hat. Schon damals spielte sie mit dem Authentischen, mit Illusion und Realität. Bei genauerem Hinschauen erkannte man irgendwann das Modellhafte in dieser frühen Bildserie, die sie nun – viele Jahre später – weitergeführt hat. In manchen der lichtdurchfluteten Innenräume respektive Puppenstuben, gelegentlich sind es Kinderzimmer, sind Flaschen oder Möbel umgekippt und verweisen auf einen Horrormoment, der im nächsten Augenblick die gesamte Szenerie verwandeln könnte.

Der Raum als Bühne ist in ihren Berliner Theaterbildern ebenso zu greifen wie in den leeren LGBT+-Kneipen in San Francisco, denen sie jeweils eine eigene Serie widmet. Überhaupt interessiert Lehmann-Brauns die fotografische Sequenz. In jedem Einzelbild der Serie existiert eine spannungsvolle und assoziationsreiche Narration, die sich innerhalb der Sequenz von einer zur anderen Aufnahme sogar noch weiterentwickelt. Es ist, als ob wir von Bar zu Bar ziehen würden, jeweils bevor sie geöffnet oder nachdem sie bereits geschlossen ist – und das entspricht auch der konkreten Aufnahmesituation.

STAGES
Anna Lehmann-Brauns: Puebla, Mexiko, 2024

Menschen existieren in ihren Fotografien nicht, nur ihre Spuren – oder mit anderen Worten: Wir scheinen sie zu spüren. Es scheint, als hätten sie gerade den Raum – oder vielleicht die Bühne – verlassen. Kein Mensch sitzt auf den freien Plätzen der Fähre zu den Prinzeninseln, in der Hotellobby, an der Bar oder am Billardtisch in den Berliner Kneipen, niemand ist am Pool oder am Strand unterwegs; mitunter kippt durch die Abwesenheit unserer Mitmenschen die Stimmung ins Dystopische und wird durch die intensive, ja optimistische Farbigkeit gleich wieder aufgefangen und austariert.

Die Liste der Aufnahmeorte entspricht unter anderem der Abfolge ihrer renommierten Aufenthaltsstipendien, die die Fotografin bei Einreichung ihrer jeweils früher entstandenen Bildserien erhält: Istanbul, San Francisco, Peking, ergänzt durch Reisen nach Italien und Mexiko.

Ihre beiden Hauptaufnahmeorte bleiben jedoch ihre Wohnorte Berlin und Leipzig. Dort entstand auch ihre Serie der Trödelläden, vor allem im Jahr 2020, also während der Corona-Pandemie, die unser gesellschaftliches Leben beinahe zum Stillstand brachte. Und so wirken auch die Schaufenster der Antiquitätengeschäfte, die von der Fotografin durch diese Aneignung völlig neu interpretiert werden; die präsentierten Gegenstände aus den vergangenen Jahrzehnten scheinen aus der Zeit gefallen.

Die Globen, Uhren, Goethe-Büsten, Porzellanfiguren, Glasaschenbecher oder ausgestopften Tiere repräsentieren trotz aller Staubablagerungen und der aus der Mode gefallenen Ästhetik ihre früheren Besitzer. Gelegentlich zerstört ein kleiner Preisaufkleber die Illusion einer Zeitlosigkeit und bringt uns zurück in die Realität des kapitalistischen Warenkarussells. Der jetzige Aufenthaltsort der zurückgelassenen, mal teuren, mal nahezu wertlosen Gegenstände macht sie gewissermaßen zu Überlebenden, und sie schreien ihre Existenz den Schaufensterbummlern teilweise schrill und laut entgegen. Es ist ein zeitgenössischer Blick in eine diffuse Zeitlichkeit, der wie jedes fotografische Bild natürlich nur einen Zwischenzustand markiert.

Das gleiche gilt für die Bars und Theater, die teilweise kurze Zeit nach diesen Aufnahmen verschwunden sind. Für die Theater am Kurfürstendamm, die Anna Lehmann-Brauns 2018 kurz vor ihrem Abriss in ihrem künstlerischen Stil systematisch dokumentierte, fiel damals sprichwörtlich der letzte Vorhang. Kaum etwas von den Theaterrequisiten hat sich vermutlich erhalten, und inzwischen sind die Kudamm-Theater ins ehemalige Schillertheater und weiter an den Potsdamer Platz umgezogen. Solche Zwischennutzungen und Umwidmungen sind typisch für Berlin, für eine Stadt, die sich im ständigen Wandel befindet, die »immer wird und niemals ist«, um einen Ausspruch von Karl Scheffler aus den sogenannten Golden Zwanzigern zu zitieren. Was vor 100 Jahre festgestellt wurde, gilt in dieser Stadt noch immer. Anna Lehmann-Brauns Bildserien dokumentieren eine konkrete Situation und symbolisieren zugleich den stetigen, radikalen Wandel eines großen urbanen Systems. Insofern ist diese neue Publikation und die Präsentation im Projektraum der Helmut Newton Stiftung, parallel zu "Berlin, Berlin" im ersten Stock, eine überaus sinnvolle Ergänzung.

Matthias Harder, aus dem Einführungstext der Publikation "Anna Lehmann-Brauns, Stages", Hartmann 2024

STAGES
Anna Lehmann-Brauns: Theater, Abschiedsparty