CROSSING VIEWS
Fotografie aus Leipzig
Joachim Brohm » Silke Koch » Andrej Krementschouk » Nadin Maria Rüfenacht » Hans-Christian Schink » Oskar Schmidt » Erasmus Schröter »
Exhibition: 2 Aug – 19 Sep 2013
Fri 2 Aug 18:00
Marburger Kunstverein
Biegenstr.15
35037 Marburg
06421-25882
info@marburger-kunstverein.de
www.marburger-kunstverein.de
Tue-Sun 11-17, Wed 11-20
CROSSING VIEWS
Fotografie aus Leipzig
Joachim Brohm, Silke Koch, Andrej Krementschouk, Nadin Maria Rüfenacht, Hans-Christian Schink, Oskar Schmidt und Erasmus Schröter
Eröffnung: Freitag, den 2. August 2013 um 18 Uhr
Ausstellung: 2. August bis 19. September 2013
Zur Eröffnung spricht der Kurator, Professor Dr. Kai-Uwe Schierz von der Kunsthalle Erfurt.
Der Titel der Ausstellung lautet „CROSSING VIEWS“ und bezieht sich auf die „Verschränkung unterschiedlicher Blickwinkel und stilistischer Präferenzen“, die die Arbeit von Leipziger Fotografen in den vergangenen zwei Jahrzehnten laut Professor Dr. Kai-Uwe Schierz von der Kunsthalle Erfurt dominiert – eine „ästhetische Pluralität“, welche die Vielfalt des aktuellen Kunstgeschehens weltweit widerspiegele.
Gibt es eine Fotografie speziell Leipziger Prägung? Die kulturell vitale sächsische Stadt punktet mit Malern der Leipziger Schule und der Neuen Leipziger Schule. Lässt sich Vergleichbares auch von Künstlerinnen und Künstlern behaupten, die sich auf das Medium der Fotografie spezialisiert haben und als Lehrer, Studierende und Absolventen den Ruf der Hochschule für Grafik und Buchkunst heute prägen? Ein Blick auf die Leipziger Tradition bis 1990 offenbart stilistische Zusammenhänge und einen Wertekonsens, den sozial engagierte, Arbeitswelten und Alltag beobachtende Fotografen schufen, die überwiegend im Schwarzweißmodus arbeiteten. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte ist diese Situation einer ästhetischen Pluralität gewichen, welche die Vielfalt des aktuellen Kunstgeschehens weltweit reflektiert. Dabei treten dokumentierende, szenisch-inszenierte und konzeptuelle Ansätze heute kaum noch ‚sortenrein‘ in Erscheinung; vielmehr dominiert die Verschränkung unterschiedlicher Blickwinkel und stilistischer Präferenzen. Die Auswahl der künstlerischen Positionen für CROSSING VIEWS trägt dieser gewandelten Situation Rechnung. Vorgestellt werden Vertreter mehrerer Generationen mit recht unterschiedlichen, zum Teil auch kontrastierenden ästhetischen Perspektiven, deren Arbeiten dennoch Korrespondenzen erkennen lassen. Ihnen geht es einerseits immer noch um das genuin fotografische Programm: zu beobachten, aufzuzeichnen und ästhetisch zu ordnen, was an Vorfindlichem durch das Objektiv einer Kamera jeweils sichtbar wird. Anderseits enthält ihre Bildsprache vielfältige Referenzen in die Geschichte der Kunst, Literatur und Philosophie. Nicht zuletzt verbindet die in der Ausstellung versammelten Künstlerinnen und Künstler ihr ausgeprägtes Interesse an den Menschen, ihren Lebensumständen, ihrem Selbstbehauptungswillen, ihren Träumen und ihrer Art, Wirklichkeiten zu erzeugen. Immer wieder kreuzen sich die Blicke, so unterschiedlich die biografischen und ästhetischen Dispositionen auch sein mögen.
Eine leicht surreale Mischung aus Tristesse und Schönheit erzeugt Oskar Schmidt (*1977 in Erlabrunn) mit seinen Bildern, die junge Frauen und Mädchen in ausgeräumten Interieurs zeigen. Die Porträtierten erscheinen ganz auf sich zurückgezogen, ihr Inneres; es gibt keinerlei Dialog mit dem Betrachter. Vielmehr glauben wir, die Räume als Widerhall ihrer Stimmung interpretieren zu können – melancholisch, doch erotisch aufgeladen. Ihre Haltung und Position im Raum, alle Details der Einrichtung, der Kleidung, die Farbigkeit – alles scheint einem szenografischen Konzept entsprungen zu sein, wie die Fortsetzung von Malerei mit anderen Mitteln. Tatsächlich hat der Künstler seine Figuren anderen Bildern entnommen, gemalt von Vermeer, Seurat oder Balthus.
Erasmus Schröter (* 1956 in Leipzig) porträtiert seit einigen Jahren Menschen mit ausgeprägten Neigungen zur Selbststilisierung, zum Rollenspiel, zur Neukonstruktion ihrer Identität. Die jährlich stattfindenden Wave-Gotik-Treffen in Leipzig bieten ihm zahlreiche Gelegenheiten, derartige Persönlichkeiten zu beobachten und mit veristischer Präzision in ihrem ambivalenten Habitus zwischen Dark-Phantasy-Traumwelt und körperlich-realem Sein abzulichten.
Wie ein Kontrastprogramm zu dieser Welt exotischer und künstlicher Verwandlungen wirken die 2- bis 6-jährigen Kinder, die Nadin Maria Rüfenacht (*1980 in Burgdorf/ Schweiz) vor klassisch-dunklem Hintergrund porträtiert hat. Sie stehen auf antiken Schemeln wie die Figuren auf traditionellen Denkmälern, entlehnen von diesen Bildformeln die Würde des Erhoben-Seins, jedoch kombiniert mit der Natürlichkeit, die von ihrer Alltagskleidung und ihren nackten Füßen ausgeht. Von den Podesten aus schauen die Kinder ruhig und ernst in die Kamera – und auf den Betrachter: kleine Monumente des Wachsens, der Zuversicht. Mit dem Titel ihrer Serie verweist sie auf die Literatur der Aufklärung, auf Voltaire, der seine Romanfigur Candide auf die Frage, was schlussendlich von der Welt zu halten sei, antworten lässt: „Wir müssen unseren Garten bestellen.“
Halbverfallene Gärten werden wieder bestellt auch von jenen Menschen, die Andrej Krementschouk (*1973 in Gorki, heute Nischni Nowgorod/ Russland) in ihrem Lebensumfeld fotografiert hat: Rückkehrer in die ‚Zone‘, jenen verwaisten Landstrich, der im Radius von 30 km rund um das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl gebildet wurde. Für die Rückkehrer bedeutet die ‚Zone‘ ein Stück Heimat, das sie trotz der unsichtbaren Gefahr nicht missen wollen. Dem Fotografen gelangen poetische wie melancholische Bilder dieser tragisch vereinsamten Gegend und ihrer Bewohner.
Sehr weit entfernt erscheint uns auch jener Ort New Leipzig im mittleren Westen der USA, den Silke Koch (*1964 in Leipzig) im Jahr 2005 besuchte. In einem multimedialen Projekt thematisiert sie den Kontrast zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, der diesen ländlichen Ort prägt und – ungeachtet deutscher Besitzstände – als „Home of the Oktoberfest“ ausweist. Auch in ihrer Werkgruppe „After Grafity‘s Rainbow“ geht es um ein Phänomen der Konstruktion von Wirklichkeit. Ironisch spielt sie auf ingenieurstechnische Wunschträume und futuristische Projektionen an, die bis heute eng mit der Raumfahrt des Menschen verbunden sind. Noch in scheinbar abwegigen Vorstellungen erkennt Silke Koch utopische Potenziale und Quellen menschlicher Kreativität.
Auf einen speziellen Mix aus konventionellen und unkonventionellen, kreativen Formen menschlichen Wirtschaftens und Hausens stieß im Jahr 2008 Joachim Brohm (*1955 in Dülken) beim Besuch des winzigen portugiesischen Eilands Culatra. In der äußersten Peripherie Europas haben Fischer, Händler und Abenteurer bei der Erschließung einer unbewohnten Insel kulturelle Pionierarbeit geleistet, anfangs chaotisch und provisorisch, später EU-gefördert und –reguliert. Angeregt vom New-Topographic-Movement in den USA, fand Joachim Brohm hier zahlreiche Motive einer von Menschenhand geformten Landschaft, die er – gleichsam ästhetisch Ordnung stiftend – in eine Serie klassisch komponierter und farbig fein ausbalancierter Bilder übersetzte.
Die von Menschenhand geformte Landschaft bildet auch die Klammer im Werk von Hans-Christian Schink (*1961 in Erfurt). In seiner Bilderfolge „1 h“ zeigt er jedoch den genuin-fotografischen Effekt der echten Solarisation: Demnach führt extreme Überbelichtung im Silbergelatine-Verfahren zu einer physikalisch-chemischen Umkehrreaktion, wodurch Lichtquellen im Bild, in unserem Fall die Sonne, nicht weiß, sondern schwarz erscheinen. Schink hat den Verlauf der Sonne an verschiedenen Orten der Erde (in den Titeln durch ihre GPS-Koordinaten verschlüsselt) beobachtet und seine Negative jeweils eine Stunde lang belichtet. Langzeitbelichtung und Solarisation versetzen die sorgsam komponierten landschaftlichen Motive buchstäblich in ein anderes Licht: dunkel, nächtlich-geheimnisvoll, der Augenblick geweitet zur vollen Stunde. Fotogeschichte verbindet sich mit den technischen Möglichkeiten der Gegenwart, romantisches Naturempfinden mit dem modernen Bewusstsein von der mentalen wie auch medialen Präfiguration all unserer Blicke in die Welt. Die Einsicht, dass wir nicht nur mit Händen, sondern schon mit Blicken die Welt (die uns jeweils erscheinende Welt) formen, könnte durchaus als Leitmotiv dienen, alle nun temporär in Marburg versammelten Werke noch einmal neu und immer wieder neu zu betrachten.