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anlässlich der Ausstellung
© Ulrike Ottinger 'Schrein der kostbaren Jadekugel' (Schrein der Blinden), 2011

Ulrike Ottinger »

anlässlich der Ausstellung "UNTER SCHNEE"

mit Ulrike Ottinger

Artists Talk:

Fri 29 Nov 17:00

Johanna Breede PHOTOKUNST

Fasanenstr. 69
10719 Berlin

+49 (0)30-88913590


www.johanna-breede.com

Tue-Fri 11-17, Sat 11-14

Wer geht, lässt los. Wer geht, kappt alte Haltepunkte; verlässt Vertrautes und folgt seiner Vision. Erst wo das Alte rückwärtig am Horizont verschwindet, scheinen neue Lösungen möglich zu werden. „Das Wissen kommt von den Sohlen“, heißt es in Werner Herzogs Reisebeschreibung „Vom Gehen im Eis“. Wandern ist eben immer auch Wandlung; ist Lebenslauf; ist Loslassung. Von einer solchen Metamorphose beim Gehen erzählt auch Ulrike Ottingers Film „Unter Schnee“. Es ist die Geschichte zweier Studenten im japanischen Schneeland. In der Neujahrsnacht des „Jahres des Hasen“ begeben sie sich auf eine mystische Reise. „Unter Schnee“ ist die Verfilmung eines „rites de passage“; einer unerklärlichen Wandlung der Welt: Füchse werden in diesem Film zu Menschen, Realität wird zu einer fragilen Poesie, und Gegenwart wird zu ferner Geschichte. Und doch ist alles auf schier geheimnisvolle Weise miteinander verwoben. Ein Märchenstoff – und doch so real, wie alle Fiktionen von ihrem Kern her sind. „Nur wenn es Film wäre“, beschrieb wiederum einmal Werner Herzog dieses ästhetische Paradox, „würde ich das alles für wahr halten.“

Ottingers „Unter Schnee“ ist Film. Und gerade deshalb ist dieses Gewebe aus Berggeistern und Wegegöttern; aus Schneefrauen und Sängerinnen auf unerklärliche Weise echt. Und echt sind auch die Motive der großformatigen Fotografien, die die 1942 geborene Filmemacherin, Fotografin und Künstlerin vor gut zwei Jahren parallel zu den Dreharbeiten von „Unter Schnee“ gemacht hat und die vom 27.11.2013 bis zum 11.01.2014 in einer Ausstellung in der Galerie Johanna Breede PHOTOKUNST zu sehen sind. Sie sind echt, weil sie eine Realität berühren – eine Realität, die unentwegt wandert zwischen Innen und Außen. „Alles könnte so gewesen sein“, sagen diese zartfarbigen Fotos, aufgenommen in der Provinz Echigo. Doch vielleicht ist auch alles ganz anders gewesen, und alles Gesehene ist nur ein Traum: der alte Mann, der mit gewaltigen Schneeschuhen im ewigen Weiß zu tanzen beginnt; die Frau, die in einem Holztrog auf stillen Gewässern fischt, die Flachstücher, die sich wie unerklärliche Zeichen über die riesigen Schneefelder legen.

Für Ulrike Ottinger, die sich ihr Asien-Bild zunächst aus Fantasien und Geschichten zusammengesetzt hatte, bis sie 1985 erstmals in das damals noch fremde „Reich der Mitte“ reisen konnte, scheinen festumrissene Begriffe und gefrorene ästhetische Kategorien keine Rolle mehr zu spielen. Schon in ihrem 1988 entstandenem Spielfilm „Johanna d'Arc of Mongolia“ werden diesbezüglich die entscheidenden Fragen gestellt: „Muss die Imagination die Begegnung mit der Realität scheuen, oder lieben sich beide? Können sie sich verbünden? Verändern sie sich durch die Begegnung? Tauschen sie die Rollen?“. Auch Ottingers Fotografien zu „Unter Schnee“ stellen noch immer diese Fragen. Und die Antworten, die sie in sich tragen, umschreiben nicht weniger als eine Poetik des Schnees: 22 Worte nämlich soll der legendäre „Schneeatlas“ des japanischen Dichters Bokushi Suzuki für die weißen Flocken umfassen – darunter „Schneeknödel“ und „Reispuderschnee“; „Schaumschnee“ und „Nummer-Eins-Schnee“. Alle sind sie eine andere Spielart des eigentlich Gleichen; jedes ein anderer Name für das gleiche sechseckige Kristall. Ähnlich ist wohl auch Ulrike Ottingers Umgang mit Worten wie „Realität“, „Traum“, „Poesie“, „Film“ oder „Fotografie“ zu verstehen: Sie sind das Gleiche, und doch sind sie anders. Als wären Leinwände, Buchseiten oder Fotopapiere für die 71jährige Künstlerin letztlich nur wie die gewaltigen Schneefelder in der Provinz Echigo: Ereignisräume für eine noch unerforschte Art des Sehens. Landschaften, über die das Auge wandert; in denen es das Vertraute loslässt und nur so zu wirklich Neuem findet. (Text: Ralf Hanselle)